Uralte Stereotype: Hacker, Nerds, Computerfreaks

Nerd-Bashing von 1987: „Der maschinelle Charakter“

Thomas Barth

Als im Wahlkampf 2012 SPIEGEL-Schreiber Mathias Matussek mit seinem Pamphlet „Das maschinenhafte Menschenbild der Piraten“ gegen die neue Netzpartei trommeln wollte, ahnte er wohl nicht, dass er sich damit in eine lange Tradition stellte: Das Stigmatisieren der Netzkultur. Er stellte sich damit gegen neue Ansätze zur Vermeidung einer drohenden totalen Überwachung, welche mit ausuferndem Lobbyismus und Korruption in Medien und Politik einhergeht.

Matussek bediente sich im Dienste Bertelsmanns für den „Spiegel“ eines der ältesten Stereotype gegen Computernutzer –wenn auch nur unbewusst bzw. nach Hörensagen, wie man angesichts seiner eher mäßigen Kenntnisse der Netzkultur wohl vermuten muss.

Der „Maschinelle Charakter“

1987 galt die Studie „Der maschinelle Charakter“ (in Anlehnung an Adornos „Studie zum Autoritären Charakter“) der führenden akademischen Experten Pflüger & Schurz als Stand der Forschung; darin wurde allen Ernstes behauptet, „übermäßige“ Computernutzung führe zu einem totalitären „Schwarz-Weiß-Denken“, quasi durch psychische Infektion mit der binären Null-Eins-Logik der neuen digitalen Medien. In meiner Diplomarbeit konnte ich 1990 signifikant nachweisen, dass die zugrunde gelegten Daten dürftig und zudem falsch interpretiert waren sowie dass Forschungsdesign und Theoriebasis desolat waren.

Warum das Inverse Panoptikum der Hackerkultur nicht verstanden wurde

1997 konnte ich in einer weiteren Studie aufzeigen, wie der „Maschinelle Charakter“ sich als Standardisierung und Normierung von Vorurteilen in eine Stigmatisierungs-Kampagne gegen die damals noch kleine Computer- und Netzkultur einfügte. An diese Stigmatisierung knüpfte 25 Jahre später Matusseks „Spiegel“-Pamphlet an. Der Netzbewohner, Hacker bzw. „Computerfreak“ war schon damals zur Projektionsfläche von Ängsten und Wünschen bezüglich der heranrollenden digitalen Medienkultur geworden, deshalb wurde er pathologisiert und kriminalisiert. Außerdem tobten bereits erste politische Kämpfe um den künftigen Cyberspace der Netze, für die ich damals zwei Hauptfelder prognostizierte:

  1. Strafrecht und Überwachungsstaat, der sich im Internet gegen Hacker richten würde, die nach Transparenz von Daten der Mächtigen strebten, frühe Vorläufer von Anonymous und WikiLeaks;
  2. Die ökonomische Erdrosselung der Netzkultur durch das Copyright, wenn der digitalen Kommunikation die Besitzmetaphorik der Warenwelt übergestülpt würde.

Als Lösungsansatz unterbreitete ich 1997 das Utopiemodell des „inversen Panoptikums“, das den Panoptismus moderner Gesellschaften (Foucault) vom Kopf auf die Füße stellt: Anstatt einer immer weiter ausgebauten Überwachung der vielen Machtlosen durch wenige Mächtige sollte umgekehrt die Transparenz der Mächtigen und der Datenschutz für die vielen zur Norm werden. Meine Studie „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft: Systemtheorie, Foucault und die Computerfreaks als Gegenmacht zum Panoptismus der Computer- und Multimedia-Kultur“ steht inzwischen in vielen Informatik-Fachbibliotheken, die Debatte des Panoptismus-Begriffes findet sich in vielen Beiträgen wieder. Im „Spiegel“ und anderen Mainstream-Medien weigert man sich aber verbissen, die neuen Wertvorstellungen der Netzkultur zur Kenntnis zu nehmen. So wird dort immer wieder der angebliche Widerspruch bei Netzaktivisten und Piraten gegeißelt, sie seien für Transparenz, aber wollen zugleich Anonymität im Netz.

„Spiegel“ geißelte „Traum totaler Herrschaftsfreiheit“

Mit dem im „Spiegel“ gegeißelten „Traum totaler Herrschaftsfreiheit“ hat das natürlich nichts zu tun. Das „inverse Panoptikum“ stellt lediglich ein Leitbild zur Vermeidung einer drohenden totalen Überwachung dar, die zudem mit ausuferndem Lobbyismus und Korruption in Medien und Politik einhergeht. Digitale Technologie konzentriert immer mehr Macht bei wenigen Überwachern: Macht durch Kontrolle über die Daten der Einzelnen und Macht über den Zugang der Einzelnen zu den Medien. In einer Demokratie können die vielen Machtlosen sich jedoch gegen die zunehmende Drangsalierung wehren. Die Dunkelmänner der Datenwelt haben das natürlich auch begriffen und schreien allerorten selbst laut nach Transparenz, meinen damit aber Kontrolle über Netznutzer, Kunden, Arbeitende.

Als Gegenmächte stehen der Netzkultur damit vor allem die Geheimdienste und die großen Medienkonzerne, sprich: die Verwerter, gegenüber. Der größte Verwerter in Europa heißt Bertelsmann, der Kampf um alte Pfründe, z.B. des Copyright auch in der neuen Netzkultur, steht für diese Machtgruppen an erster Stelle. Wer etwas Neues will, wird von diesen Machtgruppen angefeindet, schlechtgeredet, später vielleicht korrumpiert, infiltriert und gekauft. So ging es der SPD, als Medienkanzler (!) Schröder für seine „Agenda 2010“ sein Hartz IV-Konzept von der Bertelsmann-Stiftung schreiben, durch McKinsey (damals Bertelsmanns Unternehmensberater) umsetzen und von Bertelsmann-Medien beklatschen ließ. So ging es den Grünen, als sie sich die Bildungspolitik der Bertelsmann-Stiftung aufschwatzen ließen, das „Leuchtturm“-Gefasel, Privatisierung und Studiengebühren. Als Grüne nach jahrzehntelangem Kampf endlich auf EU-Ebene ein Chemikaliengesetz mit formulieren durften, hatten sie sich von neoliberalen Ideologen schon so sehr einlullen lassen, dass sie sich einen Chemielobbyisten unterschieben ließen, der dem Gesetz die Zähne zog. Auch bei den Grünen begann es mit einer medialen Mischung aus Lobhudelei und Verteufelung; Lobhudelei, denn ihre Anhänger sollten ja letztlich an der Nase im Kreis herum geführt werden; Verteufelung für jene, die das nicht mit sich machen lassen wollten.

Piraten als Nerds?

Die Piraten wurden in den Mainstream-Medien aus politischem Kalkül unter dem Stereotyp der Hacker-, Nerd- und Netzkultur stigmatisiert. Der größte Skandal scheint den sie anfeindenden Gegner aber zu sein, dass hier „computeraffine“ Menschen tatsächlich politisch sind. Sie sind eben nicht unpolitische Fachidioten wie die Nerds aus der US-Soap „The Big-Bang-Theory“. Verschiedenste Label werden ihnen aufgedrückt, was im Grunde jedoch nur eines zeigt: Sie dienen als Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste. Vor allem wohl der Hoffnung, sie mögen bei aller Computerkompetenz doch so dumm sein, dass sie wie geschmiert von der korrupten Mainstream-Medienwelt und -Politik assimiliert werden können.

Mathias Matussek hat mit seinem Pamphlet damals wohl den bislang aggressivsten Beitrag zur Medienkampagne gegen die Piraten geleistet und vielleicht sogar maßgeblich zu ihrem Abstieg nebst Selbstzerlegung beigetragen. Ihr Anliegen hat dies keinesfalls verdient, ihre (Netz-) Politik nur teilweise.

Siehe

Medien- und Netzethik, Netzkultur: „Spiegel“ meint: Piraten sind dumm, albern und irgendwie –Nazis

6 Kommentare zu „Uralte Stereotype: Hacker, Nerds, Computerfreaks“

  1. Der Neoliberalismus basiert grundsätzlich auf Exklusion -so kommen die vielbejubelten „Effizienzgewinne“ zustande.
    Wer keine Knochenarbeit für Hungerlohn leisten kann, muss draußen bleiben.
    Wer keine Wucherpreise für Wohnraum zahlen kann, muss unter der Brücke schlafen -oder erfrieren.
    usw.
    Im Fall der Nerds bezieht sich die Exklusion offensichtlich auf den Verzicht auf Rückgrad und Persönlichkeit: Nur der stupide Maschinenmensch ist willkommen, der sich wie ein Werkzeug für jeden üblen Zweck benutzen lässt -sei es sinnvolle Arbeit durch schlechte Automation wegrationalisieren, die Freiheit durch Überwachungstechnologie zerstören oder Menschen mit Killerdrohnen töten und verstümmeln. Alles im Dienste der jeweils Mächtigen, die mit ihren Medien die Wahrnehmung manipulieren können.

    Like

  2. Es hat Obrigkeiten oder ihren treuen Dienern schon immer missfallen, wenn im Volk Intelligenz und Bildung auftauchen, die nicht gleichgeschaltet sind.

    Like

  3. Du meinst, dass „Der maschinelle Charakter“ Nerdbashing ist? Das ist eine objektive Studie. Die machen da nicht umsonst einen kontroversen Briefwechsel davor und dahinter und präsentieren dazwischen eigentlich nur Faktorenanalysen und Korrelationen.

    Welches lautet denn der Titel deiner Diplomarbeit, in der du mit dem „maschinellen Charakter“ abrechnest?

    Und wie die Titel deiner sonstigen Publikationen?

    Like

    1. Da musst du wohl noch einige Enttäuschungen erleben (bzw. hoffentlich erlebt haben), im weiteren Studium -Faktorenanalyse gilt unter Mathematikern nicht als besonders objektive Methode, weil man da in der Auswertung viel „drehen“ kann (wörtlich: die Faktorladungen im n-dim. Raum der Variablen, bis einem der Faktor zu den Hypothesen passt); außerdem gilt bei der empirischen Datenerhebung: „garbage in, garbage out“; der größte Klops bei Pflüger/Schurz ist ihre psychoanalytische Deutung der Bewertung des Computers als „weiblicher“ bei höherer Computeraffinität (=Nerdigkeit), frei paraphrasiert: da suchen die Nerds ihre Mama; meine No-budget-Untersuchung brachte dagegen ans Licht: Normalos bewerteten den Computer als männlich, Nerds machten ihren Markierungsstrich in der Mitte zwischen den beiden angebotenen Polen m/w; sie wollten den Rechner offensichtlich eher als Sache werten. Das pseudo-freudianische Geschwurbel im „Maschinellen Charakter“ von damals ist bis heute nicht mal bei einschlägig interessierten Psychoanalytikern erwähnenswert (vgl. z.B. Grabska Psychoanalyse der Digitalisierung: https://www.socialnet.de/rezensionen/31098.php).
      Eine Publikation meiner Ergebnisse in der Psychologie war schwierig, dauerte lange und gelang nur in kleinen randständigen Zeitschriften wie „Politische Psychologie Aktuell“ (im Netz nicht existent); Forschungsgelder einzuwerben war illusorisch -denn Pflüger/Schurz hatten in den folgenden Jahrzehnten die diskursive Deutungsmacht in diesem Bereich und auch die Macht, über Zuteilungen von Mitteln und Posten zu entscheiden, den Rest kannst du dir denken. Mir blieb nur ein Fachwechsel in die Kriminologie und Psychologen arbeiteten sich noch Jahrzehnte weiter an den faktorenanalytisch normierten und standardisierten Vorurteilen gegen Nerds ab.
      Was meine Publikationsgeschichte angeht siehe aber z.B. T.Barth: „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft“ (1997), vergriffen, aber in zahlreichen Fachbibliotheken archiviert, s.u., und in vielen Disziplinen zitiert, etwa noch 2016, zwei Dekaden nach Erscheinen, z.B. vom Historiker Marc Balfanz, Michel Foucault und das Mittelalter? Analysebegriff „Panoptismus“: https://mittelalter.hypotheses.org/9281
      Siehe auch Rezensionen:
      Degele, Nina (1998) Thomas Barth: „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft.“ in: Soziologische Revue 21: 356-358
      taz-Rezension (Prof.C.Pollmann)
      https://taz.de/Das-virtuelle-Panoptikum/!1360929/
      Debattenbeitrag zur Rezension:
      https://taz.de/!1359896/
      >Fachbibliotheksnachweise:
      https://katalogplus.sub.uni-hamburg.de/vufind/Record/221322787?rank=5
      https://krimdok.uni-tuebingen.de/Record/221322787
      https://katalog.bibliothek.tu-chemnitz.de/Record/0-221322787/Details
      https://katalog.slub-dresden.de/id/0-221322787
      https://lawcat.berkeley.edu/record/116452
      https://lib.ugent.be/nl/catalog/rug01:000428038
      https://www.econbiz.de/Record/soziale-kontrolle-informationsgesellschaft-systemtheorie-foucault-computerfreaks-gegenmacht-panoptismus-computer-multimedia-kultur-barth-thomas/10004315135
      https://www.deslegte.com/soziale-kontrolle-in-der-informationsgesellschaft-3429637/
      https://www.uni-weimar.de/de/universitaet/struktur/zentrale-einrichtungen/universitaetsbibliothek/recherche/semesterapparate/semesterapparate-medien/archiv-semesterapparate-medien/wintersemester-20042005/mw-0405-19/
      https://opac.lbs-greifswald.gbv.de/DB=1/LNG=DU/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=barth%20%22soziale%20kontrolle%20in%20der%20informationsgesellschaft%22
      >Ein Vorwort schrieb Prof.Fritz Sack, Nestor der Kritischen Kriminologie:
      https://www.krimpedia.de/Fritz_Sack
      Mein Kommentar zu Barlow („Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“, angeblich zeitweise am meisten im Netz zirkulierender Text): https://mediarep.org/server/api/core/bitstreams/1ec2e367-0462-45b6-a005-85995a48a494/content

      Like

Hinterlasse einen Kommentar